London's Lost
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(...)
Kaum
jemand war unterwegs. Es war Juni, die Nächte waren mild und es
blieb abends immer länger hell. Die Menschen versuchten in dieser
Zeit noch nach Haus zu eilen und sperrten gleich die Tür zu, wenn
sie dort sicher angekommen waren. Aus dem unbeschwerten Nachtleben
Londons waren Nächte der Angst geworden. Sogar die Prostituierten
waren für eine schnelle Nummer in einer unbeleuchteten Gosse nicht
mehr zu haben. Dass sie es nun unter den Laternen trieben, störte
sie nicht im Geringsten, aber es verschönerte das Stadtbild jetzt
nicht unbedingt. Prostitution war illegal, aber wo kein Kläger, da
kein Richter.
Gary
hob seine Mütze an und kratzte sich am Kopf. Er hatte die Zigarette
zwischen den Lippen stecken und kniff ein Auge zu. Durch die
pechschwarze Nacht, war wirklich wenig zu sehen. Sie waren bewaffnet
und hatten allerlei nützliches Zeug dabei, hatten sich aber bewusst
gegen jede Lichtquelle entschieden und die kleinen Gaslaternen
Zuhause gelassen. Schließlich wollten sie niemanden verjagen,
sondern jemanden schnappen – falls sie tatsächlich dem Mörder
über den Weg liefen, der die letzten Wochen Angst und Schrecken
verbreitete. Das würde einen dicken Bonus bringen. Seit knapp einem
Jahr hatten seltsame Morde Einzug in den beschäftigten Alltag der
Constables gehalten. Ein paar Frauen waren wie Tiere aufgeschlitzt
worden. Bis jetzt war es den Polizisten gelungen, die Fälle
möglichst von der breiten Öffentlichkeit fern zu halten, doch diese
neue Mordserie hatte Angst und vor allem Unsicherheit in den inneren
Reihen gestreut. Wer war dieser Mörder, der die Frauen aufschlitzte,
als würde er etwas suchen, und dann einfach liegen ließ? Seit
längerem war nun kein Mord mehr geschehen. Ganz ungefährlich war
das natürlich nicht, aber Gary hatte die Akten studiert und
trainierte täglich seinen Körper und den Umgang mit dem
Gummiknüppel. Seine Statur war gut und er war kräftig geworden. Mit
seinen dunklen Haaren, war er gutaussehend und begehrt. Doch seine
Gedanken galten im Moment nur der Arbeit.
Matt
war der schmalere von beiden, drahtig gebaut und mit modern
geschnittenen Haaren war er auch nicht gerade hässlich. Aber wenn
man genau hinsah, konnte man in Matt’s Augen vor allem eins
erkennen: Angst. Obwohl er wusste was zu tun war, obwohl sie den
Ernstfall so oft geprobt hatten, hatte er noch immer Angst. Gary
musste ihn bei Schichtbeginn sogar beruhigen und sprach immer wieder
leise auf ihn ein.
Mitternacht
war längst vorbei, das Läuten der Glocken verstummt und Straße für
Straße tasteten sich die Männer nun vor, stets darauf bedacht, im
Schatten zu laufen, bedeckt zu bleiben. Während ihre Kollegen die
Nacht in anderen, helleren Vierteln (und wahrscheinlich in Kneipen
und Bars) verbrachten, waren sie in der Dunkelheit unterwegs. Bis
jetzt hatten sie niemanden getroffen, ganz wie Gary es prophezeit
hatte. Und selbst wenn…dann hätten sie das arme Schwein
selbstverständlich nach Hause begleitet. Die Flower Street wurden
von den anderen Constables gemieden, doch Gary wollte nicht kneifen.
Schließlich war er nicht umsonst Polizist geworden. An diesem Abend
schien alles ruhig zu sein und die Straßen waren leer gefegt.
Es war also still auf Whitechapel’s Straßen und Matt betete, dass dies auch so bleiben möge. Das Herz schlug ihm schon den ganzen Abend bis zum Hals und er hatte bereits eine Vorahnung.
„Ich habe ein sehr ungutes Gefühl“, flüsterte er und griff sich an den Bauch. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und seine Hände zitterten immer stärker. Langsam liefen sie weiter, die Hand am Schlagstock und den Blick wach umherschweifend.
Ihre Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt und so war es kein Wunder, dass ihnen das Blut in den Adern gefror, als plötzlich ein lauter Schrei die Stille zerfetzte.