Samstag, 11. November 2017

Auszug aus London's Lost

London's Lost 

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(...)
Kaum jemand war unterwegs. Es war Juni, die Nächte waren mild und es blieb abends immer länger hell. Die Menschen versuchten in dieser Zeit noch nach Haus zu eilen und sperrten gleich die Tür zu, wenn sie dort sicher angekommen waren. Aus dem unbeschwerten Nachtleben Londons waren Nächte der Angst geworden. Sogar die Prostituierten waren für eine schnelle Nummer in einer unbeleuchteten Gosse nicht mehr zu haben. Dass sie es nun unter den Laternen trieben, störte sie nicht im Geringsten, aber es verschönerte das Stadtbild jetzt nicht unbedingt. Prostitution war illegal, aber wo kein Kläger, da kein Richter.


Gary hob seine Mütze an und kratzte sich am Kopf. Er hatte die Zigarette zwischen den Lippen stecken und kniff ein Auge zu. Durch die pechschwarze Nacht, war wirklich wenig zu sehen. Sie waren bewaffnet und hatten allerlei nützliches Zeug dabei, hatten sich aber bewusst gegen jede Lichtquelle entschieden und die kleinen Gaslaternen Zuhause gelassen. Schließlich wollten sie niemanden verjagen, sondern jemanden schnappen – falls sie tatsächlich dem Mörder über den Weg liefen, der die letzten Wochen Angst und Schrecken verbreitete. Das würde einen dicken Bonus bringen. Seit knapp einem Jahr hatten seltsame Morde Einzug in den beschäftigten Alltag der Constables gehalten. Ein paar Frauen waren wie Tiere aufgeschlitzt worden. Bis jetzt war es den Polizisten gelungen, die Fälle möglichst von der breiten Öffentlichkeit fern zu halten, doch diese neue Mordserie hatte Angst und vor allem Unsicherheit in den inneren Reihen gestreut. Wer war dieser Mörder, der die Frauen aufschlitzte, als würde er etwas suchen, und dann einfach liegen ließ? Seit längerem war nun kein Mord mehr geschehen. Ganz ungefährlich war das natürlich nicht, aber Gary hatte die Akten studiert und trainierte täglich seinen Körper und den Umgang mit dem Gummiknüppel. Seine Statur war gut und er war kräftig geworden. Mit seinen dunklen Haaren, war er gutaussehend und begehrt. Doch seine Gedanken galten im Moment nur der Arbeit.

Matt war der schmalere von beiden, drahtig gebaut und mit modern geschnittenen Haaren war er auch nicht gerade hässlich. Aber wenn man genau hinsah, konnte man in Matt’s Augen vor allem eins erkennen: Angst. Obwohl er wusste was zu tun war, obwohl sie den Ernstfall so oft geprobt hatten, hatte er noch immer Angst. Gary musste ihn bei Schichtbeginn sogar beruhigen und sprach immer wieder leise auf ihn ein.

Mitternacht war längst vorbei, das Läuten der Glocken verstummt und Straße für Straße tasteten sich die Männer nun vor, stets darauf bedacht, im Schatten zu laufen, bedeckt zu bleiben. Während ihre Kollegen die Nacht in anderen, helleren Vierteln (und wahrscheinlich in Kneipen und Bars) verbrachten, waren sie in der Dunkelheit unterwegs. Bis jetzt hatten sie niemanden getroffen, ganz wie Gary es prophezeit hatte. Und selbst wenn…dann hätten sie das arme Schwein selbstverständlich nach Hause begleitet. Die Flower Street wurden von den anderen Constables gemieden, doch Gary wollte nicht kneifen. Schließlich war er nicht umsonst Polizist geworden. An diesem Abend schien alles ruhig zu sein und die Straßen waren leer gefegt.

Es war also still auf Whitechapel’s Straßen und Matt betete, dass dies auch so bleiben möge. Das Herz schlug ihm schon den ganzen Abend bis zum Hals und er hatte bereits eine Vorahnung.
„Ich habe ein sehr ungutes Gefühl“, flüsterte er und griff sich an den Bauch. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und seine Hände zitterten immer stärker. Langsam liefen sie weiter, die Hand am Schlagstock und den Blick wach umherschweifend. 

Ihre Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt und so war es kein Wunder, dass ihnen das Blut in den Adern gefror, als plötzlich ein lauter Schrei die Stille zerfetzte.